
Leseprobe: Auge in Auge mit den Piraten
Sie näherten sich dem Kapitänsdeck. Oben stand ein dicker Mann, an dem Tim zuerst die Augenklappe auffiel. Der Mann trug weinrote Kleider, die mal zu einer Offiziers-Uniform gehört haben mussten, die aber an den Armen und Beinen abgerissen waren, so dass sie nun eher wie eine kurze Schul-Uniform aussahen. Tim musste dabei an das Klassenfoto seines amerikanischen Cousins Will denken, auf dem dieser und seine Freunde ebenfalls in einer roten Schuluniform zu sehen gewesen waren. Bei der Vorstellung, dass der dicke Kapitän mit seiner roten Uniform mitten unter den Kindern stand, musste Tim unweigerlich lachen.
„Du solltest in Gegenwart des Kapitäns besser nicht lachen“, herrschte Lazarus ihn an, als sie die letzte Treppe zum Kapitänsdeck erklommen. Das musste er Tim nicht zweimal sagen, denn je näher sie dem Kapitän kamen, desto Furcht einflößender sah dieser aus. Sein fleischiges Gesicht, seine Augenklappe und der Metallhaken an seinem linken Arm ließen Tim erschaudern. Genau so wurden Piraten immer in Büchern dargestellt, dachte er sich.
„Capitano, wir haben hier einen blinden Passagier. Er muss sich irgendwie an Bord geschlichen haben und war unten in einer Truhe versteckt.“, sagte Hasdrubal ehrfürchtig. Der Kapitän musterte Tim aus seinem Auge mit einem stechenden Blick. Dieser fühlte sich immer unwohler in seiner Haut, und er blickte ängstlich zu Boden. Dabei fiel ihm auf, dass der Kapitän auch noch ein Holzbein hatte. Er musste ganz schön was durchgemacht haben, dachte sich Tim, als ihn der kalte, eiserne Haken des Kapitäns am Kinn berührte und seinen Kopf nach oben hob. Der Kapitän stand nun direkt vor ihm. Er roch stark nach Schweiß und schien schon seit längerem keine Dusche mehr gesehen zu haben. Tim hielt den Atem an. Er wollte nur noch weg von hier. „Bitte, ich will auch nie wieder Pirat sein“, flehte er stumm. Der Kapitän schnaubte. „Was sind denn das für bescheuerte Klamotten?“
Tim zuckte zusammen, und gleichzeitig entfuhr ihm ein kurzer, amüsierter Gluckser. Er konnte nichts dafür. Er hatte eine raue, tiefe Stimme erwartet, die irgendetwas Böses sagte. Hatte der Kapitän gerade tatsächlich mit einer hohen, piepsenden Stimme nach seinen Kleidern gefragt? Tim blickte ihn erstaunt an. Die Stimme passte so gar nicht zu dem Erscheinungsbild des Furcht einflößenden Piraten. „Was fällt dir ein?“, piepste der Kapitän weiter. „Weißt du denn nicht, wen du hier vor Dir hast? Ich bin der gefürchtete Kapitän Tiberius Stockfisch, einer der mächtigsten...“ – Tim konnte nun einfach nicht mehr. Die Stimme in Kombination mit dem tobenden, dicken Mann war zu witzig. Er wollte nicht lachen, ganz sicher nicht, aber es ging nicht anders. Er prustete los und brachte den Kapitän damit noch mehr in Rage. „Werft diesen unverschämten Bengel den Haien zum Fraß vor!“
Tims Lachen verstummte und die piepsende Stimme von Tiberius Stockfisch klang auf einmal gar nicht mehr lustig. „Aber Herr Stockfisch, das können sie doch nicht machen! Ich muss doch...“ – Der Kapitän schnitt ihm das Wort ab. „Wer auf diesem Schiff was machen kann, bestimme ich allein, und niemand anders, verstanden? Und jetzt werft ihn über Bord, ich will ihn nicht mehr sehen!“
Tim verspürte nun zum allerersten Mal in seinem Leben die Angst, gleich sterben zu müssen. „Ich will nicht, das könnt ihr nicht machen“, schrie er panisch, während Lazarus und Hasdrubal ihn die Treppe hinunterschleppten. Auf dem Deck angekommen, sagte Hasdrubal zu seinem älteren Kollegen, dass dieser nicht mitzukommen brauche. „Den kleinen Schreihals habe ich auch alleine im Griff. Ich bringe ihn nach hinten, dort geht er im Strudel schneller unter. Dann kannst du Charly schon mal mit den Kanonenkugeln versorgen, bevor er noch einen Anfall bekommt.“
In diesem Moment biss Tim ihm herzhaft in den Arm, und Hasdrubal schrie vor Schmerz auf. Lazarus holte aus und schlug Tim wortlos mitten ins Gesicht. „Soso, du hast ihn also alleine im Griff.“ Lazarus bleckte das Sammelsurium aus gelben Zähnen und Zahnlücken. „Hier ruht der mächtige Pirat Hasdrubal, tödlich verletzt im Kampf mit einem komischen kleinen Wicht. Genau das werde ich auf deinen Grabstein schreiben lassen“, kicherte Lazarus. „Halt’s Maul und verschwinde endlich“, blaffte Hasdrubal ihn an. „Und nun zu dir, Bürschchen.“
