
Leseprobe: Das Klabautergirl
Er nahm das Fernrohr wieder in die Hand und schaute aufs Wasser hinaus. Wasser, nichts als Wasser und blauer Himmel. Während er sich langsam mit dem Fernrohr am Auge um die eigene Achse drehte, schrak er plötzlich zusammen. Er blickte direkt in ein grinsendes, fast weißes Gesicht. Eine weiße Hand winkte ihm zu, worauf er erschrocken das Fernrohr herunter nahm.
„Mit dir wird es einem nicht langweilig, was? Lustige Idee, die Jungs da unten zu verkohlen. Laaaaand in Siiiicht – ich hab mich fast totgelacht“. Das Klabautergirl schwebte kichernd vor Tim in der Luft. Das Kichern war so ansteckend, dass der Junge unweigerlich mitlachen musste. „Darf ich eintreten?“, fragte sie und huschte über den Rand hinein in den Ausguck. „Wir wollen doch nicht, dass mich die anderen da unten sehen, oder? Hihihi...“
„Wie... wie hast du das gemacht?“, stammelte Tim. „Was denn?“ – Das Klabautergirl schaute ihn mit seinen großen, strahlend blauen Augen unschuldig an. Die Augen waren das einzig Farbige an dem Mädchen, und Tim war mehr als fasziniert von diesem lustigen, fast weißen Geschöpf. Sogar die langen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, waren schneeweiß, wie Tim feststellte. War das, was sie an hatte, ein weißes Kleid, oder war das, was ihren Körper zu bedecken schien, etwa der Körper selbst?
„Komm, nun sag schon, was hast Du gemeint? Wie... wie hast du das gemacht?“ – sie äffte ihn belustigt nach und brachte ihn in Verlegenheit. „Na, dieses... dieses Schweben oder Fliegen oder was das war. Bist du ein Gespenst oder sowas?“
„Junger Mann, jetzt machen sie aber mal halblang, ja?“ Das Klabautergirl baute sich vor ihm auf und verschränkte empört die Arme. „Ich und ein Gespenst, pah! Und ich dachte, wir könnten Freunde werden. Wie kannst du dir nur erlauben...“ – „Äh, tschuldige, ich wollte nicht...“, fiel Tim ihr ins Wort, um ihren Redeschwall zu unterbrechen. Er mochte die lustige Kleine.
„Reingelegt, reingelegt. Hihihi, ist das lustig“, unterbrach ihn diesmal das Klabautergirl. Sie sprang in die Luft, schlug einen Salto über Tims Kopf und schwebte wieder zurück in den Ausguck. Sie musterte den immer noch ziemlich entgeistert dreinblickenden Jungen, dann wurde sie ernst. „Tschuldigung, manchmal geht einfach mein Temperament mit mir durch. Das war gerade einfach zu lustig. Aber ich glaube, ich schulde dir tatsächlich eine Erklärung. Also, wo soll ich anfangen? Ach ja, das Fliegen. Tja, also fliegen konnte ich eigentlich schon immer“. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung plapperte das Klabautergirl ohne Luft zu holen vor sich hin. „Na ja, eigentlich ist es ja mehr ein Schweben, das trifft es genauer. Dafür kann ich nicht laufen, hab nämlich keine Beine, siehst du?“
Sie schwebte kurz nach oben und wackelte mit ihrem weißen Unterteil, das wie ein Kleid aussah und das unten zusammengeknotet war. Tims staunender Blick schien sie noch mehr zu belustigen. „Cool, nicht wahr? Finde ich nämlich auch. Laufen ist bestimmt ganz schön anstrengend, da ist Schweben viiieeel besser, hihihi. Äh, was wolltest du nochmal wissen?“ – „Ich...“ – „Ach ja, ob ich ein Gespenst bin. Gespenst! Pah, wie sich das anhört! Klabby, das Nachtgespenst, buuuh! Hihihi. Nein, ich bin kein Gespenst, zumindest kein richtiges mit Geisterstunden und Spuken und solchen Sachen. Aber ich kenne ein paar davon. Die sind tatsächlich ziemlich abgefahren, können sich unsichtbar machen und so’n Zeugs. Nein, so eine bin ich nicht.“
Tim nutzte die kleine Pause, die sie nun doch zum Atemholen brauchte, um auch mal wieder zu Wort zu kommen. „Aber was bist du dann?“
„Tja, gute Frage eigentlich...“ Sie schaute nach oben in Richtung Himmel und schien dort die Antwort zu suchen. „So richtig kann ich dir das auch nicht sagen. Ich bin irgendwie von allem ein bisschen. Also mein Papa war früher mal ein Seefahrer. Das ist aber schon ein paar hundert Jahre her. Dann hat ihn einer umgebracht, und seither ist er sowas wie ein Geist und schaut auf dem Ozean nach dem Rechten. Tja, und Mama war früher mal ne Hexe. Sie hatte sich irgendwann mal versehentlich selbst verhext, und Papa hat sie aus dem Meer gezogen. Sie hat ihm aus Dank ein paar Zaubertricks gezeigt, und dabei haben sie sich wohl verliebt. Und vor ein paar Jahren wurde ich dann geboren. Von ihr hab ich das hier gelernt. Schau mal!“
Sie schnippte mit den Fingern, und plötzlich begann es aus heiterem Himmel zu regnen – obwohl keine einzige Wolke weit und breit zu sehen war. Tim war in Sekundenschnelle klatschnass, und unten an Bord rannten die Männer in die Mannschaftsräume. Dann klatschte das Klabautergirl grinsend in die Hände, und es hörte genauso abrupt zu regnen auf wie es angefangen hatte. „Cool, nicht wahr?“, strahlte sie Tim an, dem gerade ein großer Wassertropfen von der Nasenspitze herab tropfte. „Warte, ich mach dich wieder trocken.“ Sie hauchte ihn kurz an, und er spürte, wie die nassen Kleider an seinem Körper in Sekundenschnelle wieder trocken wurden.
„Klasse, kannst du mir das auch beibringen?“, fragte Tim begeistert, „Ich will das auch können.“
Die beiden lachten zusammen und machten noch eine Weile Quatsch, bis dann von unten eine raue Stimme „Hey Sockenfuß, ich komme jetzt wieder hoch“ rief.
„Oh, Zeit für mich zu gehen. Schade eigentlich“, sagte das Klabautergirl. „Ich schaue morgen wieder vorbei, dann musst du mir aber von dir erzählen, hörst du? Also, bis dann, und viel Spaß bei der Party heute abend. Huuuuiiiiiiiii...“
